Von Ingo Pietsch

Ich genoss es, mich beim Rasenmähen zu entspannen. Wie der Mäher Bahn für Bahn ein Muster in den Vorgarten schnitt. Manchmal kam ich aus mir selbst heraus und fuhr eine Spirale in den Rasen.
Als ich fertig war, setzte ich mich auf meine Gartenbank und begutachtete die sauber gestutzten Büsche, das unkrautfreie Beet und die frisch gefegte Einfahrt.
Dann blickte ich auf die andere Seite der verkehrsberuhigten Straße.
Ich atmete tief ein und aus und begann zu träumen. Vergessen der Mäherlärm, kein vorbeifahrendes Auto, kein Hund bellte.
Ich war richtig tiefenentspannt und flog wie durch eine andere Welt.
Ich lehnte mich zurück und dachte daran, dass es das letzte Mal so ruhig in der Corona-Zeit vor ein paar Jahren gewesen war, bis wir Glasfaser bekamen …

 

***

 

Uns gegenüber wohnten die Familien Hannemann und Kröger in gepflegten Einfamilienhäusern,  mit gepflegtem Umgang und gepflegten Grünflächen. Alle respektierten sich und es gab nur ganz selten Streit, der mit einem Feierabendbierchen wieder geschlichtet wurde.
Man brauchte keinen Zaun und auch keine Hecke, denn jeder wusste, wo seine Grenze war, da ein uralter Grenzstein die Grundstücke markierte. Und das reichte völlig aus.
Eines Tages kamen die Bauarbeiter und verlegten Glasfaser in unserer Straße. Der Gehweg wurde aufgerissen und gleich wieder versiegelt. Eine Ruck-Zuck-Aktion.
Allerdings war nach Beendigung der Tätigkeiten der Grenzstein verschwunden.
Und so nahm das Unglück seinen Lauf.

 

Erst fing es ganz harmlos an, als Hannemann und Kröger regelmäßig ihren Rasen mähten.
Jeder fuhr ein Stück weiter über die imaginäre Linie, um der Grünfläche den letzten Schliff zu geben.
Folglich war mal das eine, dann das andere Grundstück 20 Zentimeter größer, weil beide ja nicht zur selben Zeit mähten.
Immer wenn der eine an die Grundstücksgrenze kam, blickte er zum Haus des anderen hinüber, ob er nicht zum Fenster herausspähte.
Während die Frauen das eher locker sahen, siezten sich die Herren nach einer Weile nur noch.
Da Hannemann beim städtischen Bauamt arbeitete und ein Faible für Genauigkeit besaß, informierte er sich über die tatsächliche Grundstücksgrenze und steckte einen Holzstab in die Erde, den er mit leuchtendem Orange ansprühte.
Da Kröger sich aber auf einmal im Nachteil fühlte, holte er ebenfalls Erkundigungen ein.
Und siehe da: Aus irgendeinem nicht mehr nachvollziehbaren Grund überschnitten sich die Grundstücke um vierzig Zentimeter.

 

Da der Grenzstab nicht die erhoffte Wirkung gebracht und laut dem ordnungsverliebten Hannemann Kröger immer Schlangenlinien in die Grünfläche gemäht hatte, wurden jetzt Nägel mit Köpfen gemacht.

Kröger arbeitete im Hoch- und Tiefbau und war mit Fundamenten bestens vertraut.
Er errichtete einen brusthohen Jägerzaun – mit der nicht so schönen Seite zu seinem Nachbarn.
Da Corona uns beherrschte, waren die Supermärkte und Baustoffhandel, die einzigen, wo man noch hingehen konnte.
Hannemann war auch nicht untätig geblieben und zog eine Mauer vor den Jägerzaun, der jetzt vollkommen nutzlos geworden war und hinter den Steinen lächerlich wirkte.
Da wir jetzt auch noch Ausgangssperren hatten, konnte man so gut wie nirgendwo mehr hin.
Krögers hatten sich einen Hund zugelegt, damit sie rausgehen konnten.  Der Vierbeiner kackte allerdings regelmäßig bei Hannemanns auf den Rasen. Oder in die Blumen. Oder hinter die Autoreifen. Oder sogar auf die Fußmatte. Krögers waren da sehr erfinderisch.
Dafür wuchsen bei Krögers auf einmal unendlich viele Löwenzahnpflanzen auf dem Rasen und wenn Hannemanns grillten, zog auf wundersame Weise der Qualm immer zu Krögers hinüber.
Da das immer noch nicht reichte, wurden beide Häuser gegenseitig mit lauter Musik beschallt. Nachts. Um halb drei. Heavy Metal und Schlager.
Das wurde uns selbst als Nachbarn zu viel und ich rief die Polizei.
Als diese eintraf, versteckte ich mich im dunklen Wohnzimmer am Fenster.
„Und, was kannst du sehen?“, rief meine Frau von oben.
„Psst! Die beiden werden gerade herauszitiert und stehen sich am Zaun gegenüber. Hannemann sieht aus wie eine Mumie. Morgenmantel, Gummihandschuhe, Maske, Schutzbrille“, sagte ich etwas ungläubig, „und einen Schal um sein Gesicht gewickelt. Es sieht so aus, als könnten ihn die Beamten nicht verstehen. Kröger hat gar nichts an. Oder nur einen String, das kann ich bei der Dunkelheit nicht genau erkennen. Der macht sich jedenfalls keine Sorgen, dass er sich anstecken könnte. Die Polizisten erklären irgendwas und die beiden nicken und ziehen sich zurück. Die Polizisten wollen wieder ins Auto einsteigen. Ich komme wieder hoch.“ Ich war auch im Begriff, wieder ins Bett zu gehen, da ich vor Müdigkeit kaum noch stehen konnte, als die Musik wieder voll aufgedreht wurde. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Hannemann, das hätte ich ihm gar nicht zugetraut, über die Mauer sprang und sich auf den fast nackten Kröger stürzen wollte.
„Kommst du jetzt, oder ist da noch was los?“
„Nö, alles gut“, stotterte ich, denn es war gnadenlos gelogen.
Ich beobachtete das Spektakel, wie die Beamten es gerade noch mit aller Kraft schafften, die beiden Streithähne auseinander zu halten.
Erst als die Verstärkung mit Blaulicht eintraf und die Situation deeskalierte, schlich ich mich davon.
Nicht, dass mich noch jemand erwischte, wie ich am Fenster stand und Erdnüsse futterte.

 

Inzwischen hatte jeder von dem Krieg etwas mitbekommen.
Der Zeitungsausträger warf das Tagesblatt bei Hannemanns nur noch in den Vorgarten, aus Angst vor Übergriffen.
Und der Hund von Krögers zerfetzte die Zeitung jedes Mal, wenn sie zugestellt worden war.
Die Lokalpresse war vor Ort gewesen und sogar das Regionalfernsehen hatte Interviews von zwei völlig missverstandenen Männern bekommen.
Kröger war nicht untätig geblieben, hatte den Jägerzaun entfernt und dafür zweimeterfünfzig hohe stabile Sichtschutzpaneele installiert.
Hannemann konnte das besser. Ein riesen Bagger zerpflügte seinen ganzen Rasen, damit sie Löcher für Betonpfeiler buddeln konnte. Dazwischen kamen quergelegte Betonpfeiler, die eine Mauer bildeten.
Mit fiel fast die Teetasse aus der Hand, als ich das Ding sah. Es war so groß, dass man es bestimmt aus dem Weltraum hätte sehen können. Und hässlich! Einfach Grau in Grau. Mich hätte nicht gewundert, wenn ein paar Graffitikünstler die Mauer zur neuen Berliner Mauer gemacht hätten.
Doch dann ging der Kampf der Titanen erst richtig los.

 

Am folgenden Tag stand bei Krögers ebenfalls ein Bagger im Garten.
Kröger versuchte die Fundamente von seiner Seite aus auszuheben, damit die Mauer fiel.
Dabei erwischte er eine Wasserleitung und setzte seinen und Hannemanns Vorgarten unter Wasser, sodass sich alles in eine matschige Mondlandschaft verwandelte.
Während die Familienangehörigen die Häuser verlassen hatten und geflüchtet waren, lieferten sich die Patriarchen einen Baggerkampf, der jeden Treffer in einen Glockenschlag verwandelte.
Die Mauer war inzwischen gefallen und der Kampf sich nach weiter hinten verlagert.
Hannemann hatte die Gartenlaube der Krögers abgerissen und Kröger war einfach durch den Pool seiner Nachbarn gefahren.
Die Stadtwerke hatten das Wasser abgedreht und begutachteten den Schaden, der entstanden war.
Was der zigarettenrauchende Experte allerdings nicht mit einkalkuliert hatte, war eine beschädigte Gasleitung gewesen …

 

***

 

Ein paar dunkle Wolken zogen auf und ich wollte meinen Rasenmäher wieder in die Garage stellen.
Ich sah ein letztes Mal auf die andere Straßenseite.
Dort war jetzt ein Spielplatz für Kleinkinder. Und selbst der größte Lärm, den die Kinder veranstalteten war immer noch ruhiger, als das, was nach dem Mauerbau geschah.
Es ist kaum in Worte zu fassen, wie beinahe das Viertel dabei zerstört worden wäre. Und das meine ich jetzt nicht metaphorisch.
Ich bin froh, dass wir alle noch Leben sind und niemand schwer verletzt wurde. 

 

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